Wirtschaftsgespräche am Main 21.05.2024

Wirtschaftsgespräche am Main mit Heraeus-CEO Jan Rinnert

„Wir müssen als Wirtschaft aktiver werden“

Wie schafft es ein mehr als 360 Jahre altes Familienunternehmen aus FrankfurtRheinMain, sich immer wieder neu zu erfinden und seine Erfolgsstory in die Zukunft zu schreiben? Dazu wusste Jan Rinnert bei den 114. Wirtschaftsgesprächen am Main eine Menge zu sagen. Der CEO der Heraeus-Gruppe aus Hanau beschrieb den Weg von der Apothekengründung bis zum modernen Portfolio-Unternehmen, das mittels Materialkompetenz und Prozesstechnologie-Know-how immer wieder Innovationen schafft und neue Chancen generiert. Und natürlich durfte dabei auch nicht die Geschichte von der Mondlandung 1969 fehlen. Schließlich können nur wenige Unternehmen von sich behaupten, ein (noch funktionierendes) Produkt auf dem Erdtrabanten zu haben. Ein weiteres Speaker-Highlight für die über 90 Gäste im Steigenberger Icon Frankfurter Hof!

„Traditionsunternehmen“ – diesen Begriff hört Jan Rinnert nicht so gerne, schwingt hier doch etwas Schwerfälligkeit und Veränderungsscheu mit. Zuschreibungen, die auf Heraeus ganz und gar nicht zutreffen. Dann vielleicht lieber „Startup des 17. Jahrhunderts und wirtschaftliches Schwergewicht in FrankfurtRheinMain“, wie der Wirtschaftsinitiative-Vorstandsvorsitzende Michael Müller den Gast und sein Unternehmen vorstellte?

Ein Unternehmen wie ein Baum

Gründervater Isaac Heraeus hatte als Religionsflüchtling aus den spanischen Niederlanden in Hanau Zuflucht gefunden und dort 1660 eine Apotheke eröffnet. Elf Generationen später ist das Unternehmen immer noch mehrheitlich im Familienbesitz, erfolgreicher denn je und gehört zu den Top 10 der deutschen Familienunternehmen. Und das soll auch so bleiben. 2060 will Heraeus 400 Jahre als Familienunternehmen feiern. „Wir werden uns immer wieder verändern und weiterentwickeln müssen. Nichts von dem, was wir heute sehen, wird 2060 noch relevant sein“, ist Rinnert überzeugt. Daher gefällt ihm ein Bild ganz besonders: „Wir sind wie ein Baum: fest verwurzelt, mit einem dicken Stamm und starken Ästen, die immer wieder junge Triebe entwickeln und neue Chancen suchen.“ Eine Familienverfassung und eine ausgeklügelte Governance-Struktur sorgen dafür, dass wichtige Entscheidungen zügig getroffen werden können. „Unser Familien-Credo lautet: Die Firma geht vor.“

Das Portfolio zählt

Was macht Heraeus heute? Eine Frage, die sich nicht in einem Satz beantworten lässt. Der Ursprung des Unternehmens liege in der Metallverarbeitung. Seinerzeit hätten Apotheken sich auch viel mit Alchemie beschäftig, so Rinnert. Mit der ersten deutschen Platinschmelze machte Heraeus Platin zum Industriemetall. Hier seien auch die bis heute geltenden Kernkompetenzen des Unternehmens grundgelegt: der Umgang mit Metall- und Materialeigenschaften sowie mit Prozesstechnologie. Nach dem Schmelzen von Platin kam das Schmelzen von Bergkristallen und Quarzsand. „Daraus entstand Quarzglas, für das Heraeus bereits 1900 das Patent erhielt. Es wird heute etwa im Lichtleitfasergeschäft oder in der Halbleiterherstellung eingesetzt und es gibt nur wenige Unternehmen, die das noch können“, betonte Rinnert. Hier kommt übrigens auch die erste Mondlandung 1969 ins Spiel. Die legendäre Apollo-11-Mission ließ einen Laser-Reflektor zur genauen Bestimmung der Entfernung zwischen Erde und Mond auf der Oberfläche zurück. Und das weltraumstabile Quarzglas für den immer noch funktionsfähigen Reflektor stammt aus Hanau.

Heraeus sei historisch gewachsen ein monolithisches Unternehmen gewesen, eine „explodierte Apotheke“, beschrieb Rinnert die Entwicklung. „Jetzt reden wir über ein Portfolio-Unternehmen mit 20 sogenannten Verticals. Wir schauen auf jedes Geschäft, als wäre es das einzige. Heraeus ist heute also ein Familien- und- Technologie-Unternehmen, das Portfolio-Management kann. Die letzten drei Jahre waren die besten der Firmengeschichte.“ Die strategische Führung läuft über eine kleine zentrale Holding mit nur 27 Mitarbeitenden. Das Global Management Committee besteht aus neun Personen. „Es gibt keine Ressorts, wir versuchen, alle Entscheidungen konsensual zu treffen.“

Das Geschäft von Heraeus spielt sich auf vier Business-Plattformen ab: Metals & Recycling (zum Beispiel Recycling von Seltenen Erden, Recycling von PET-Flaschen, Kreislaufwirtschaft), Healthcare (etwa Knochenzemente, Glastechnologie für die Medizintechnik), Semiconductor & Electronics (Materialien für die Halbleiterproduktion) und Industrials (unter anderem Messsensoren für die Stahlindustrie). Die Vertriebsprozesse funktionieren jeweils unterschiedlich. Mit dieser diversifizierten Geschäftsstrategie hat das Unternehmen zuletzt 29 Milliarden Euro Umsatz gemacht – ein Drittel in den USA, ein Drittel in Asien und ein Drittel in Europa, davon rund 10 Prozent in Deutschland.

Industriestandort Deutschland

„Heraeus zeigt exemplarisch, wie sich ein Unternehmen über die Jahrhunderte in FrankfurtRheinMain entwickelt hat. Wir können froh und stolz sein, einen solchen Leuchtturm in der Region zu haben. Die Industrie ist für unsere Region essentiell. Daher setzen wir uns weiterhin dafür ein, industrielle Fertigung in der Region zu halten“, machte Michael Müller deutlich. Kein Zufall also, dass sich in der anschließend von F.A.Z.-Herausgeber Carsten Knop moderierten Fragerunde vieles um den Industriestandort Deutschland und die aktuellen Herausforderungen drehte. Von der Politik forderte Rinnert eine industriepolitische Agenda für die nächsten 15 Jahre, die bestimmte Themenbereiche wie etwa Energie oder Cyber-Security ganz klar auf die europäische Ebene delegiert. Doch auch an die Mitglieder der Wirtschaftsinitiative hatte er in Zeiten schwindender Gewissheiten eine Botschaft: „Wir sind es gewohnt, dass die Politik die marktwirtschaftlichen Rahmensetzung vornimmt und die Wirtschaft sich – abgesehen von Lobbyarbeit – heraushält. Doch wir müssen auch als Wirtschaft aktiver werden.“

Der studierte Betriebswirt und Jurist Jan Rinnert stieg 2004 als Geschäftsführer von Heraeus Kulzer in die Unternehmensgruppe ein. 2007 wurde er zum CFO ernannt, seit 2013 ist er CEO der Holding-Geschäftsführung von Heraeus. 

„Wirtschaftsgespräche am Main“ ist ein exklusives Veranstaltungs- und Kooperationsformat, das die Wirtschaftsinitiative FrankfurtRheinMain gemeinsam mit der F.A.Z. und dem Hotel Steigenberger Icon Frankfurter Hof ausrichtet. In der Regel finden zwei bis vier Ausgaben pro Jahr statt.

Fotos: Kirsten Bucher

Erstausstrahlung: rheinmaintv

2:40 Min.

Das könnte Sie auch interessieren: