Wirtschaftsgespräche am Main 12.12.2024

Wirtschaftsgespräche am Main mit Siemens-CEO Dr. Roland Busch

„Eigentlich ist die deutsche Industrie in der Pole Position“

Wie steht es um die deutsche Industrie – mit Blick auf Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI)? Bei den 117. Wirtschaftsgesprächen am Main ließ Siemens-Chef Dr. Roland Busch die über 100 Wirtschaftsinitiative-Mitglieder und Gäste an seinen Gedanken teilhaben. Zunächst im Zwiegespräch mit F.A.Z.-Herausgeber Carsten Knop, dann in einer offenen Diskussion. Natürlich waren viele spannende und überraschende Einsichten aus der Welt des zweitwertvollsten DAX-Unternehmens dabei. Es ging um den notwendigen Umbau der Industrie-Ökosysteme, die „Katastrophe“ EU AI Act, Investitionen in Deutschland, Software-defined Automation und Bottlenecks bei der Stromversorgung. Und nicht zuletzt auch um Persönliches: Was inspiriert einen Top-Manager, der sein ganzes Berufseben bei einer Firma verbracht hat?

Siemens und FrankfurtRheinMain – das ist eine lange Geschichte. Seit 176 Jahren sind das Unternehmen und die Metropolregion eng verbunden. 1848 entstand die erste europäische Telegrafenlinie über eine weite Entfernung zwischen Berlin und Frankfurt. Schließlich wollte man in der preußischen Hauptstadt genau wissen, was in der Paulskirche so vor sich ging. „Deutschland musste sich in der Demokratisierung zwar noch lange gedulden, aber die von Siemens errichtete Standleitung zwischen Frankfurt und Berlin hat seither Bestand“, begrüßte Michael Müller, der Vorstandsvorsitzende der Wirtschaftsinitiative FrankfurtRheinMain, den Chef-Siemensianer. Heute ist der Technologiekonzern in über 190 Ländern aktiv, hat 320.000 Mitarbeitende und verdiente zuletzt rund 78 Milliarden Euro. Und: Vor elf Jahren war schon einmal ein Siemens-CEO bei den Wirtschaftsgesprächen am Main zu Gast. Joe Kaeser hatte damals von einem „dringend benötigten Kulturwandel“ gesprochen.

Neue Ökosysteme braucht das Land

Wandel und Veränderung gehören im Hier und Jetzt ganz selbstverständlich dazu. Eben noch in China, landete Dr. Busch pünktlich zu den Wirtschaftsgesprächen am Flughafen Frankfurt und ließ es sich nicht nehmen, vorher noch ein anderes DAX-Schwergewicht in der Region zu besuchen – Wirtschaftsinitiative-Mitglied Merck in Darmstadt. „Mit Merck verbindet uns seit 145 Jahren eine enge und sehr gute Kooperation“, erläuterte der CEO gegenüber seinem Dialogpartner Carsten Knop. Aber: Mit einem extrem starken Mittelstand seien Ökosysteme in Deutschland oft noch von alter Prägung. „Standards setzen und geschlossen halten, ist heute nicht mehr die Lösung.“ Ökosysteme müssten sich nach US-amerikanischem Vorbild an Technologieplattformen orientieren, offen und um IT und Daten herum gebildet sein. „Das ist für uns in Deutschland eine große Herausforderung und Riesen-Chance zugleich.“

Weniger Regulierung ist mehr

Beim Thema Daten machte Carsten Knop natürlich direkt den Schwenk zur Künstlichen Intelligenz. „Wie generiert man Mehrwert durch KI?“, fragte er den promivierten Physiker, der bei Siemens als Brennstoffzellen-Experte gestartet war und sich auch schon mal selbst an der App-Programmierung via Large Language Model (LLM) versucht hat. Ein gelungenes Beispiel mit Regional-Bezug: die Digitalisierung der Zugsicherung im Frankfurter U-Bahn-System. Hier hätten Siemens und die Nahverkehrsgesellschaft VGF es geschafft, auf einer Strecke 25 Prozent mehr Züge fahren zu lassen. „Eigentlich ist die deutsche Industrie in der Pole Position: Wir haben die Daten, die Automatisierung und sogar die zweitmeisten Patente im Bereich KI.“ Gerade Siemens sei bei KI-Patenten vorn dabei. „Doch wir überregulieren in Europa. Den EU AI Act halte ich für eine Katastrophe. Ja, man muss regulieren – bei Copyright oder Biometrik. Alles andere lässt sich besser nachregulieren“, gab er sich überzeugt. Seine Vorhersage: „In fünf bis zehn Jahren werden wir komplett andere Geschäftsmodelle sehen, die die Welt verändern. Aber wir werden es gar nicht merken, dass wir KI verwenden.“

Angesichts der prekären Bedingungen – Standortkosten, Energiepreise, Genehmigungsprozesse – spreche derzeit viel gegen Deutschland. „Sind wir bei Siemens deshalb Geisterfahrer, weil wir am Standort Erlangen investieren? Nein, zumal wir weniger energieintensiv arbeiten als andere.“ Nichtsdestotrotz müsse Deutschland viele Themen dringend angehen, unter anderem den demografischen Wandel.

Software im Mittelpunkt

Was Siemens besser mache als etwa die deutschen Autobauer, wollte Carsten Knop anschließend wissen. „Die Automobilindustrie geht den Weg der Software-defined Automation. Das liegt nicht in der deutschen Ingenieurs-DNA, das müssen wir lernen. Und das gilt auch für uns“, sagte Dr. Busch. Siemens setze in Sachen Software-Fokussierung stark auf Zukäufe. „Vor 14 Jahren haben wir die erste Software-Akquisition getätigt, für inzwischen 41 Akquisitionen haben wir viele Milliarden Dollar ausgegeben. Der digitale Umsatz von Siemens steigt. Und das bringt auch eine andere Kultur mit sich. Was uns dabei besonders auszeichnet: Wir verbinden die reale und die digitale Welt.“ Die letzte Akquisition liegt erst wenige Wochen zurück. Im Oktober hat Siemens mit Altair Engineering einen Anbieter für Simulationssoftware übernommen, „der uns perfekt ergänzt“. Gemeinsam mit Altair könne nun alles abgebildet werden, was etwa für die Erstellung eines Digitalen Zwillings notwendig sei. „Wir bauen alles zweimal: digital und real.“ Das vermindere Konstruktionszeiten und senke Energiekosten.

Der Kampf um die Energie

Energie – ein gutes Stichwort nicht nur für Carsten Knops letzte Frage, sondern auch für die anschließende Diskussionsrunde. Denn die zunehmende Elektrifizierung der Welt sowie mehr und mehr KI-Rechenzentren lassen den Strombedarf rasant nach oben schnellen, was auch dem Siemens-Chef große Sorgenfalten bereitet. „Wir haben unser Energiesystem komplett an die Wand gefahren. Die Zeitachse zwischen Atom- und Kohle-Ausstieg und dem Aufbau einer Versorgung mit Erneuerbaren Energien funktioniert nicht. Man muss es nochmal komplett neu denken.“ Parallel liefen auch zahleiche Bemühungen, etwa den Stromverbrauch der für KI-Anwendungen notwendigen GPU-Chips zu reduzieren. „Doch sicher ist: Es wird einen Fight geben.“

„Was sind für Sie Quellen der Inspiration?“ Das wollte eine Teilnehmerin ganz zum Schluss wissen. „Menschen“, lautete die kurze wie prägnante Antwort des Top-Managers, der sich als „Siemens-Lifetimer“ bezeichnete. „Damit meine ich natürlich allen voran unsere tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch interessante Köpfe außerhalb der Firma, zum Beispiel aus der Hightech-, Silicon Valley- oder Startup-Szene.“

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Fotos: Kirsten Bucher

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