Wirtschaftsgespräche am Main 06.06.2022

Wirtschaftsgespräche am Main mit Christian Kullmann

„Ohne die chemische Industrie stehen die Räder der deutschen Volkswirtschaft still“

Mehr als eineinhalb Jahre mussten die Mitglieder der Wirtschaftsinitiative auf Ausgabe Nummer 108 warten, denn Corona hatte die „Wirtschaftsgespräche am Main“ über weite Strecken der Pandemie auf Eis gelegt. Mit Christian Kullmann, Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) und im Hauptberuf CEO der Evonik Industries AG, feierte das Flaggschiff-Format der Wirtschaftsinitiative nun endlich sein Comeback. Das brandaktuelle und drängende Thema des Executive Lunchs: die Energiepolitik, die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, die unsanfte Landung in der Realität – und was das für die chemische Industrie bedeutet.

„Es tut einfach gut, sich wieder zu treffen“, sprach Wirtschaftsinitiative-Geschäftsführerin Annegret Reinhardt-Lehmann das aus, was wahrscheinlich den meisten der 65 Gäste durch den Kopf ging. Wenngleich bei den Wirtschaftsgesprächen am Main nicht alles beim Alten geblieben war. Erstmals fanden sie nämlich im Hotel Steigenberger Frankfurter Hof statt. Zuvor hatte über 20 Jahre lang ein anderes Wirtschaftsinitiative-Mitglied die Bühne für das Dialog-Event geboten: das Hotel InterContinental Frankfurt, das aufgrund einer groß angelegten Renovierung nun bis mindestens 2025 geschlossen bleiben muss.

Gas ist das Rückgrat

Mit Christian Kullmann hatte sich ein Speaker aus der Metropolregion Rhein-Ruhr angekündigt, der einen Real-Time-Blick auf das derzeit wichtigste wirtschafts- und industriepolitische Thema versprach. „Die Frage der Energieversorgung bildet das Fundament für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Europa. Und die chemische Industrie ist mittendrin“, führte Prof. Dr. Wilhelm Bender, Vorstandsvorsitzender der Wirtschaftsinitiative, Kullmann ein. 500.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien hier beschäftigt, insgesamt hingen rund zwei Millionen Arbeitsplätze unmittelbar daran. „Wir sind wichtig“, betonte der VCI-Präsident angesichts dieser Zahlen eingangs selbstbewusst. Und er ergänzte: „90 Prozent aller Produktionsprozesse in Deutschland brauchen die Chemie. Ohne uns gibt es keine Elektromobilität, keine Windräder, keine Medikamente, keine Verpackung im Supermarkt. Ohne die chemische Industrie stehen die Räder der deutschen Volkswirtschaft still.“

Gleichzeitig sei die chemische Industrie die energieintensivste Industrie, steuerte Kullmann auf den neuralgischen Punkt zu. Fakt am Rande: Sie verbraucht im Jahr fünfmal so viel Gas wie Dänemark. Wie viele Wirtschaftslenker hält Kullmann einen Teil der aktuellen Problematik für hausgemacht. Der politisch motivierte Zeitpunkt des Ausstiegs aus der Kernenergie und der Kohleverstromung bei gleichzeitig nicht ausreichendem Ausbau der regenerativen Energien habe dazu geführt, dass eine Abhängigkeit von günstigem russischem Gas entstanden sei. „Gas ist somit das Rückgrat unserer Energieversorgung. Wir brauchen es.“ Bei der Frage des Gasembargos gegen das kriegführende Russland sieht er die Bundesregierung auf dem richtigen Kurs. „Wir unterstützen das Primat der Politik im Thema Ukraine voll und ganz und sind bei den Menschen dort, aber plädieren mit Blick auf Sanktionen für Augenmaß.“ Es dürfe nicht passieren, dass die Sanktionen den Absender mehr träfen als den Aggressor. Nun müsse es darum gehen, alternative Gasquellen zu erschließen, was schwierig genug auf dem engen und hochpreisigen Weltmarkt sei. Und zum Realismus gehöre auch die Erkenntnis, „dass wir unseren Wohlstand sehr wahrscheinlich nicht sichern können, wenn wir ausschließlich Geschäfte mit Ländern machen, die vollständig dem Anspruch westlicher Demokratien entsprechen.“ Nicht zu vergessen: Staaten, auf die 50 Prozent der Weltbevölkerung entfielen, beteiligten sich derzeit nicht am Sanktionsregime gegen Russland.

Handeln – jetzt!

Natürlich sprach Christian Kullmann, der bewusst seine Rolle als VCI-Präsident nutzte, auch über Lösungsansätze für die unausweichliche Energiewende. „Wir brauchen eine Brücke. Und diese Brücke wird Gas sein. Aber wir müssen jetzt schnell, umfassend und mit aller Entschiedenheit regenerative Kapazitäten aufbauen.“ So fehlten 10.000 Kilometer Leitungsnetzte, um etwa Windenergie von der Nordsee in die Republik zu bringen. Auch leiste die chemische Industrie in Deutschland ihren Beitrag, indem sie immer ressourceneffizienter agiere und produziere. Sie sei eine der innovativsten der Welt. Aktuell könne die Branche mit Preissteigerungen, Brüchen in der Supply Chain und logistischen Verstopfungen umgehen. „Prognosen sind schwierig. Aber derzeit geht es uns gut. Und wir finden, das sollte so bleiben und in Zukunft noch besser werden. Das ist unternehmerisches Denken“, schloss er durchaus optimistisch.

Bevor F.A.Z.-Herausgeber Carsten Knop die ausführliche Fragerunde einläutete, stellte Christian Kullmann noch einen denkwürdigen Vergleich in den Raum: „Stellen Sie sich einen Zug vor, der von Frankfurt bis nach Sevilla reicht. Das sind über 1.800 Kilometer. Jeder Waggon ist gefüllt mit Gas. Wie lange kann dieser Zug die chemische Industrie in Deutschland mit Gas versorgen?“ Die Antwort: „Genau sechs Stunden.“ Selbstverständlich kein Zufall, dass Kullmann mit Sevilla den Ort des Europa League-Finales für sein Beispiel wählte. Schließlich nutzte der fußballbegeisterte Aufsichtsratsvorsitzende von Borussia Dortmund die Gelegenheit, um Eintracht Frankfurt und der Region auf diesem Wege herzliche Glückwünsche zum Titelgewinn zu überbringen.

Fotos: Kirsten Bucher

 

„Wirtschaftsgespräche am Main“ ist ein exklusives Veranstaltungs- und Kooperationsformat, das die Wirtschaftsinitiative FrankfurtRheinMain gemeinsam mit der F.A.Z., der Messe Frankfurt und dem Hotel Steigenberger Frankfurter Hof ausrichtet. Es findet in der Regel drei- bis viermal pro Jahr statt. Für 2022 haben sich noch der Finanzvorstand von Audi Jürgen Rittersberger und der CEO der Deutschen Post Frank Appel angesagt.

 

 

Das könnte Sie auch interessieren: